3. Definiton Entwicklung

3.1. Urie Bronfenbrenner

Der amerikanische Psychologe Urie Bronfenbrenner begreift menschliche Entwicklung als eine über die gesamte Lebensspanne hinweg andauernde Dynamik wechselseitiger Angleichung zwischen Organismus und Umwelt. Diese Dynamik bezeichnet Bronfenbenner als Ökologie; er definiert (Q):

Foto Urie Bronfenbrenner

"Die Ökologie der menschlichen Entwicklung befasst sich mit der fortschreitenden gegenseitigen Anpassung zwischen dem aktiven, sich entwickelnden Menschen und den wechselnden Eigenschaften seiner unmittelbaren Lebensbereiche. Dieser Prozess wird fortlaufend von den Beziehungen der Lebensbereiche untereinander und von den größeren Kontexten beeinflusst, in die sie eingebettet sind."

Um die Dynamik wechselseitiger Anpassung von Individuum und Umwelt zu erfassen, operiert Bronfenbrenner mit einem Umweltbegriff, der im Vergleich zu zahlreichen anderen Ansätzen der Entwicklungspsychologie erheblich erweitert und differenzierter ist. Ökologische Umwelt ist zu verstehen als eine verschachtelte Anordnung von Lebensbereichen, von denen jeder im nächsten enthalten ist.

Schaubild "Die Ökologie der Menschlichen Entwicklung"

Die Umweltsysteme umfassen zunächst den unmittelbaren Handlungsraum dyadischer Interaktionen (Mikrosystem) und die Verknüpfungen dieser unmittelbaren Handlungsräume (Mesosystem). Sodann werden auch soziale System erfasst, denen ein Individuum nicht angehört, die aber die unmittelbaren Handlungsräume beeinflussen (Exosystem) sowie die Kultur insgesamt, die sämtliche Handlungssysteme einschließt (Makrosystem). Wie beim sich entwickelnden Individuum sind auch bei den Umweltsystemen Stabilität und Veränderung über die Zeit hinweg in Betracht zu ziehen (Chronosystem). In diesem Kontext definiert Bronfenbenner Entwicklung wie folgt:

"Menschliche Entwicklung ist der Prozess, durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexem oder komplexerem Niveau umzubilden."

Von Entwicklung ist also dann zu sprechen, wenn

  • individuelle Veränderungen nicht nur als augenblicks- oder situationsbezogene Reaktionen aufzufassen sind;
  • die Veränderungen sich gleichzeitig in Wahrnehmung und Handlung ereignen;
  • die Veränderungen eine Ausdifferenzierung der Vorstellungen der sich entwickelnden Person über ihre Umwelt enthalten, m.a.W. zu einer Verbesserung der (wechselseitigen) Anpassung von Individuum und Umwelt führen.

Bronfenbrenner definiert (Q): "Wenn eine in Vorstellungen oder Aktivitäten und Tätigkeiten der Person (oder beidem) bewirkte Veränderung erwiesenermaßen auf andere Lebensbereiche und andere Zeiten übergreift, kann gesagt werden, dass Entwicklung stattgefunden hat".

Mit diesem Konzept sind nun in der Tat beide Ansätze zu integrieren. Einmal lässt die Definition des Entwicklungsbegriffs die Annahme zu, dass der menschliche Lebenslauf zunächst in Kindheit und Jugend durch Entfaltungsprozesse gekennzeichnet sein kann, die Entwicklungsnormen und -ziele nahelegen. Das heißt aber nicht, dass nach dem Erreichen bestimmter Entwicklungsnormen Stillstand, allenfalls Konsolidierung und anschließend Abbau sich anschließt. Vielmehr sind auch anschließend noch und über die gesamte Lebensspanne Entwicklungsprozesse denkbar, und zwar dahingehend, dass nicht situative und augenblicksübergreifende Veränderungen zu einer Verbesserung der wechselseitigen Anpassung von Individuum und Umwelt führen. Das heißt, die Definition verweist einerseits auf eine qualitative Dimension des Entwicklungsgeschehens, ohne diese andererseits an Reifungs- oder Entfaltungsprozesse festmachen zu müssen. Entwicklung in diesem Verständnis ist über die gesamte Lebensspanne in Rechnung zu stellen.