4. Das Konzept der lebenslangen Entwicklung

Foto alter Mann auf Maßband (Symbolisch Prozess der Alterung)
Der Grund, warum die Entwicklungspsychologie erst in jüngerer Zeit damit beginnt, einen Aspekt der menschlichen Natur zu erschließen, der schon lange Gegenstand des kulturell überlieferten Wissens ist, dürfte zum einen das Vorherrschen von Theorien mit einem reifungsorientierten Entwicklungsbegriff sein. Da Reifungsprozesse im Jugendalter enden, entfällt die Notwendigkeit der näheren Betrachtung des folgenden Altersabschnitts. Zum anderen dürfte das bisher eher geringe Interesse der Lerntheoretisch orientierten Entwicklungspsychologie am Erwachsenenalter für diesen Sachverhalt mit verantwortlich sein. Laut Baltes rückte die Lebensspannenperspektive insbesondere durch folgende Sachverhalte in den Mittelpunkt des Interesses: (Q)
  • Das Erreichen eines hohen Lebensalters war bis vor einigen Jahrzehnten eher eine Ausnahme als die Regel. Es ist daher verständlich, dass nur selten an Wissenschaftler der Wunsch herangetragen wurde, den Alterungsprozess auf die Dauer zum Gegenstand eines Forschungsprogramms zu machen. Der Seltenheitswert des Altwerdens hat sich verloren. Die jetzt lebenden Generationen haben wortwörtlich und im übertragenen Sinne eine andere Lebenserwartung: Von den heute fünfzig- bis sechzigjährigen Einwohnern westlicher Länder beispielsweise können die meisten damit rechnen, dass sie fast achtzig Jahre alt werden.
  • In der Vergangenheit gab es für den Großteil der Bevölkerung weniger Freiraum in der Lebensgestaltung. Der größte Teil des Lebens war durch das stetige und gesellschaftlich mit gesteuerte ineinander Wirken von den drei Lebensräumen Bildung, Familie und Arbeit bestimmt und inhaltlich und zeitlich ausgefüllt.

Weitere Impulse und Begründungen für eine Life-span-Perspektive der Ontogenese lassen sich auch in anderen verhaltens- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen finden. Insbesondere in der Soziologie wird dem Studium des Lebenslaufs und dem aus verschiedenen Altersgruppen und Generationen verflochtenen sozialen Netzwerk ebensoviel Aufmerksamkeit gewidmet wie in der Psychologie.